„Mama, bitte nicht schreien“ – Wenn Worte Wunden hinterlassen
- Eleonore Hasler
- vor 6 Minuten
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„Mama, bitte nicht schreien.“Ein Satz, leise gesprochen, mit zitternder Stimme – und doch lauter als jedes Donnerwort.
Viele Eltern kennen diesen Moment: Der Alltag ist anstrengend, die Geduld am Ende, und ehe man sich versieht, ist die Stimme lauter, als man wollte. Für Erwachsene mag es nur ein kurzer Ausbruch sein – für ein Kind kann er sich wie ein Erdbeben anfühlen.
Wenn Liebe laut wird
Kinder erleben die Welt über Gefühle. Für sie ist die Stimme von Mama oder Papa der sicherste Ort der Welt – oder der gefährlichste. Wenn dieser vertraute Klang plötzlich wütend, scharf oder abwertend wird, versteht das Kind die Welt nicht mehr. Es fühlt sich klein, hilflos und verunsichert.
Das kindliche Gehirn reagiert auf Schreien wie auf eine Bedrohung: Das Herz schlägt schneller, Stresshormone fluten den Körper, der sogenannte „Flucht- oder Kampfmodus“ wird aktiviert. Doch Kinder können nicht fliehen. Sie erstarren – und dieses Gefühl der Ohnmacht brennt sich tief ein.
Wiederholt sich das Anschreien, entsteht Angst: Angst, etwas falsch zu machen, Angst vor Nähe, Angst, nicht geliebt zu werden. Viele Kinder lernen, still zu werden, sich anzupassen, unauffällig zu sein. Nicht, weil sie „brav“ sind – sondern weil sie gelernt haben, dass Lautsein weh tun kann.
Wenn Eltern untereinander laut werden
Kinder leiden nicht nur darunter, selbst angeschrien zu werden. Auch wenn sie miterleben, wie ihre Eltern laut miteinander streiten, löst das tiefe Ängste aus – oft unausgesprochen, aber deutlich spürbar.
Kinder nehmen Spannungen wahr, lange bevor Worte fallen. Sie spüren den Tonfall, sehen die Haltung, fühlen das Zittern in der Luft. Und obwohl der Streit „nichts mit ihnen zu tun hat“, ziehen sie unbewusst die Schuld auf sich. Sie fragen sich:
„Habe ich etwas falsch gemacht?“„Geht Mama weg?“„Liebt Papa uns dann noch?“
Solche Situationen können tiefe Unsicherheiten hinterlassen. Kinder wünschen sich nichts sehnlicher als Sicherheit. Wenn die Erwachsenen, die ihr sicherer Hafen sein sollen, gegeneinander kämpfen, verlieren sie diesen Halt.
Manche Kinder versuchen dann, zu vermitteln oder besonders „brav“ zu sein, um die Stimmung zu retten. Andere ziehen sich zurück oder entwickeln Ängste – vor Konflikten, vor Ablehnung, vor Lautstärke. Selbst im Erwachsenenalter kann diese innere Anspannung noch spürbar sein.
Warum Eltern laut werden – und warum das kein Zeichen von Schwäche ist
Es ist wichtig, auch die Sicht der Eltern mit einzubeziehen – ohne Schuld, aber mit Verständnis. Niemand schreit, weil er böse ist. Eltern schreien, weil sie überfordert sind, weil sie nicht mehr weiterwissen oder weil ihre eigenen Gefühle zu gross werden.
Viele haben es selbst nie anders erlebt. Vielleicht wurden sie als Kinder angeschrien, vielleicht war Lautsein in ihrer Familie die einzige Art, gehört zu werden. Manchmal entsteht Lautstärke aus Erschöpfung, manchmal aus dem Wunsch heraus, Kontrolle zu behalten. Schreien ist selten ein Ausdruck von Bosheit – es ist oft ein Ausdruck von Schmerz.
Wie Sie den Kreislauf durchbrechen können
Perfektion ist keine Lösung – Menschlichkeit schon. Kinder brauchen keine fehlerfreien Eltern, sondern solche, die bereit sind, hinzusehen, zu lernen und sich zu verändern.
Einige Wege, um die Dynamik zu verändern:
🌿 Innehalten – Wenn Sie merken, dass die Wut in Ihnen hochsteigt, versuchen Sie kurz zu stoppen. Atmen Sie tief durch, verlassen Sie den Raum, zählen Sie innerlich bis zehn. Es ist besser, einen Moment Abstand zu nehmen, als laut zu werden.
🌿 Ehrlich sein – Wenn Sie laut geworden sind, entschuldigen Sie sich. Ein ehrliches:
„Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Du hast das nicht verdient. Ich war überfordert.“kann mehr heilen, als viele glauben. Kinder verstehen solche Gesten und spüren, dass Beziehung wichtiger ist als Perfektion.
🌿 Eigene Gefühle ernst nehmen – Hinter Wut steckt oft Überforderung, Erschöpfung oder alte Verletzung. Wenn Sie verstehen, was hinter Ihrer Lautstärke steht, können Sie anfangen, sie zu verändern.
🌿 Unterstützung annehmen – Niemand muss das allein schaffen. Gespräche mit Partnerinnen, Freundinnen oder Fachleuten (z. B. Elternberatung, Therapie oder Coaching) können helfen, neue Wege im Umgang mit Stress und Emotionen zu finden.
Wenn Kinder sehen, dass Eltern lernen
Kinder lernen nicht von Perfektion – sie lernen von Echtheit. Wenn sie sehen, dass Erwachsene sich entschuldigen, über sich nachdenken und sich bemühen, es anders zu machen, erfahren sie eine wertvolle Lektion fürs Leben: Beziehungen können heilen. Fehler sind kein Ende, sondern ein Neuanfang.
Das vermittelt Sicherheit – und eine tiefe Botschaft:
„Ich bleibe. Auch wenn es laut war. Ich liebe dich. Und ich arbeite daran, dass es leiser wird.“
Leise Liebe
Vielleicht erinnern Sie sich, wie sich Schreien anfühlt – diese Lautstärke, die durch den ganzen Körper geht, und die Stille danach, die weh tut. Aber Sie können auch lernen, wie sich Ruhe anfühlt – eine liebevolle Ruhe, die zuhört, die trägt, die heilt.
Kinder vergessen laute Worte nicht. Aber sie erinnern sich an leise Umarmungen. Veränderung beginnt genau dort – im Moment des Hinschauens, im Mut zur Entschuldigung, in der Entscheidung, dass Liebe leiser werden darf.
Herzliche Grüsse
Eleonore Hasler
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